— S9L —
76.
Die Nelke.
Es war eine Königin, die hatte unser Herr Gott verschlossen,
daß sie keine Kinder gebar. Da ging sie alle Morgen in den Gar
ten und bat zu Gott im Himmel, er möchtt ihr einen Sohn oder
eine Tochter bescheeren. Da kam ein Engel vom Himmel und
sprach : „gib dich zufrieden, du sollst einen Sohn haben mit wünsch,
lichen Gedanken, denn was er sich wünscht auf der Welt, das wird
er haben." Sie ging zum König und sagte ihm die fröhliche
Botschaft, und als die Zeit herum war, gebar sie einen Sohn,
und der König war Ln großer Freude.
Nun ging sie alle Morgen mit dem Kind in den Thiergarten
und wusch sich da und es geschah einmals, als das Kind schon ei»
wenig älter war, daß es ihr auf dem Schooß lag und sie ent
schlief. Da kam der alte Koch, der wußte, daß das Kind wünsch-
liche Gedanken hatte und raubte es, und nahm ein Huhn und zer
riß es, und tropfte ihr das Blut auf die Schürze und das Kleid.
Dann trug er das Kind fort an einen verborgenen Ort, wo es
eine Amme tränken mußte, und lief zum König und-klagte die
Königin an, sie habe ihr Kind von den wilden Thieren rauben
lassen. Und als der König das Blut an der Schürze sah, glaubte
cr es, und gerieth Ln einen solchen Zorn, daß er einen tiefen
Thurm bauen ließ, in den weder Sonne noch Mond schien, und
seine Gemahlin hinein setzen, und vermauern; da sollte sie sieben
Jahre sitzen, ohne Essen und Trinken und sollte verschmachten.