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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L77
EINWANDERUNG
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die geschichte fast geschwelgt, denen aber ihre kostbare spräche ge
währ leistet, dicht an der ostseektiste von der Weichsel bis zur Düna,
seitwärts zur Wilna hin durch Preuszen, Sainogitien, Kurland und
Liefland strecken sich die Überbleibsel einer Völkerschaft, die niemals
einflusz auf die weltbegebenheiten gewonnen, sich stets unter dem 170
druck mächtigerer nachbarn befunden hat. Ihre spräche steht in drei
zweigen bedeutsam von einander ab; darunter ist der allpreuszische
ganz ausgestorben, nur aus einem einzigen denkmal spärlich zu erken
nen. der litthauische lebt in Ostpreuszen und Samogitien, dort reiner,
hier mit polnischen Wörtern vermengt, der lettische in Kurland und
Liefland: aus diesen Verschiedenheiten zieht die Sprachforschung nur
gewinn, alterthümlich und formreich erscheint zumal der litthauische
dialect im engeren sinn, kaum eine andere spräche in Europa steht
dem sanskrit näher, auszerdem findet grosze ähnlichkeit mit der deut
schen und slavischen zunge statt, diese beiden werden durch die
litthauische gewissermaszen vermittelt, was nur nicht so aufzufassen
ist, als sei das litthauische, wie man früher wol angenommen hat, aus
ihnen gemischt worden, da es vielmehr selbständige eigenlhümlichkeit
besitzt, die nur an deutsche und slavische rührt, ebensowenig aber
haben die slavische und deutsche spräche ihre urverwandten bestand-
theile aus der litthauischen entlehnt, sondern zwischen allen dreien
waltet warme in der geschichte der europäischen sprachen höchst fol
genreich dastehende gemeinschaft ob. wahrscheinlich hatte auch die
getische spräche einen nicht zu übersehenden verband mit der lit—
thauischen; es ist ungemein merkwürdig, dasz der preuszische Lit—
thauer den polnischen, d. h. den Samogeten Gudas oder Guddas nennt,
unserm mittelalter hiesz er Sameite, woraus nachher Schamaite ent
sprang, was sich alles zurückführt auf Samogeta.
Schon dieser, wie mich dünkt, erweisliche haft zwischen Lit—
thauern und Geten zwingt, auch ohne andre historische Zeugnisse, den
aufenthalt der litthauischen stamme in der gegend, wo sie jetzt woh
nen, sehr früher zeit zu überweisen, sie scheinen durchaus nicht
später als Deutsche und Slaven, welchen sie stets benachbart waren,
in Europa, also schon lange vor dem beginn unsrer Zeitrechnung an
ihrer stelle angelangt; ihre abgeschiedenheit, bei geringer anzahl, hat
ihnen feste dauer gegönnt: erst in der späteren polnischengeschichte
gieng ein litthauisches herzogthum unter, litthauisches heidenthum musz 171
vorzüglich aus samogitischen Überlieferungen erforscht werden.
In weit ansehnlicherer breite und ausdehnung, wie sie wenig an
dern auf dem erdboden zu theil ward, bat sich das slavische volk ent
faltet, und bildet den sechsten sprachstamm, dessen denkmäler und
Verzweigungen die reichste ausbeute darreichen.
So spät Slaven in die geschichte eingezeichnet sind (denn sie
werden zuerst bei Iornandes und Procop mit gothischen, bei den anna-
listen hernach mit fränkischen händeln verflochten), läszt das nahe Ver
hältnis ihrer spräche zur deutschen und litthauischen gar nicht be
zweifeln, dasz sie ungefähr gleichzeitig mit diesen nachbarn auf dem