© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L77
VOCALISMUS
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in welchen nur die drei kurzen vocale walten, z. b. Joh. 7, 45
uslagida ana ina handuns; Joh. 7, 49: atiddja du imma in naht sums
visands.
Keine andere europäische zunge vermag diesen einfachsten wollaut
in solcher reinheit; aber die ahd. mundart kommt der gotli. zunächst,
sie überbietet sie noch durch häufigere bewahrung des ableitenden
A, wogegen sie freilich das A der flexion oft in U oder 0 wandelt
und der brechung mehr umfang gestattet: ana sama, stilli miti, hugu
sunu, aki apuh, inan plintan pipar fdu ipu pirum sciluf, upar wuntar
sumar humpal, upil chunni, adala danana wahtala sualawa, mihhilin
himilisc chisilinc silapar mittuli, kalilinc mammunti stantanti sagitun,
sumarum fugalum Fugalinc chuningis hugita wunscili jungirin tuttuli.
die formein 14, 22, 24, 26, 36 werden ahd. thunlich: hasalum adalum
Adalunc, acharum, himilum wibilum distilum digitum, hiruzum fingarum
wintarum hugitum tumphilum; viersilbig: amisala nahtigala samanunca
und in Zusammensetzungen: gihugita ungimacha unfirslagan gitubili
intnagili antlingita. Die ahd. mundart liebt, in drei und mehrsilbigen
Wörtern, den vocal der vorletzten mit dem der letzten silbe auszu
gleichen, z. b. aus pittar zu bilden pitturu pittiri oder für hungarita
zu schreiben hungirita. auf den wurzelvocal kann dies nur in so weit
einflieszen als dessen brechung aufgehoben wird: degan gidigini, wetar
giwitiri, fogal fugili; aber statt wunscili könnte nie gesagt werden
winscili, für hantilin nie hintilin.
Der gr. spräche sind alle U in Y getrübt und viele A in E oder
0 geschwächt, dennoch hat sie eine grosze zahl reinlautender A und I
bewahrt und die formein 1, 2, 6, 10, 13, 17 lassen sich im überflusz
nachweisen: «pa nuQu /.tdXu xuxu xaxd dXXd IIaXXdg uvÖQa
fxuxQ(i, xloi xioi ocpioi, TtVa tivd (flXa, xdXavxu uq/liutu cpay/naxu
uyXad dfxa'^a, dvuxxi dydgdai nugdaXig dya&ig, dygia donida
naxQidu (.idoxtyu, /udXiaxu xdyioxu. xdXXtaxa, seltner schon 11, 23,
35: xlßiaig, Xinuqd oxißagd, xlSaQig xi&aqig.
Erwägt man nun ferner, dasz in der lat. litth. und goth. spräche
zu jenen drei kürzen noch lange vocale und diphthonge treten und sich 292
nach schöner folge abstufen; so erreicht der vocalismus in ihnen
seinen gipfel.
Zugleich musz aber nicht verkannt werden, dasz es dem geistigen
fortschritt der spräche angemessen war, von solcher höhe herabzusteigen
und auf kosten des lauts eine noch gröszere manigfaltigkeit geschwäch
ter, gebrochner, getrübter töne zu erzeugen, was hauptsächlich durch
E und 0, so wie durch vielfache umlaute und assimilationen bewirkt
wurde, indem die Wörter weniger in den sinn fallen, werden sie
anspruchloser und für die abstraction taugender.
Schon in dieser hinsicht ist der griechischen spräche eine höhere
Vollendung und Verfeinerung als der lateinischen beizulegen, sie hat
die glücklichste mitte getroffen und von dem ursprünglichen wollaut
nur so viel aufgegeben, als nöthig war, um die freiste beweglichkeit
zu entfalten.