© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L 72
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und schwerfällige doch nicht ganz unterdrückte natiir-
lichkeit zugestanden werden; als im sechzehnten jalir-
liundert tiefere bekanntschaft mit den classikern anfieng
und der geschmack sich reinigte, wurden die edelsten
kräfte in erleichterter und gehobner nachahmung der
lateinischen poesie vergeudet. damals schüttelten alle
gelehrten aus ihrem ermel fliefsende liexameter, wel
chen nichts abgieng als nationalität und die feinheit des
nachbildens, dessen anforderungen durch fortgesetzte be-
trachtung der classischen werke beständig gesteigert wer
den. solche verse vermochten nie das volk zu erquicken,
nur der bildung jener zeit genug zu thun, während sich
die fort oder zurückschreitende der folgenden bald wie
der von ihnen abwandte. Was hätte nicht die poetische
eingebung eines EobanusHessus, Petrus Lotichius, Nicode
mus Frischlin und vieler anderer auferbauen mögen, wenn
sie der muttersprache zu statten gekommen wäre, diese
dichter zogen das Scheinleben einer vollendeteren, un
nachahmlichen form dem wahren vor, das sich auf ver
wildertem aber fruchtbarem boden des Vaterlandes selb
ständig und schöpferisch erzeugt hätte. Seit, nach
überlangem ringen, unsere spräche sich wieder los
machte, ist die hervorbringung lateinischer gedichte bil
lig in enge schranken gewichen, und mehr ein prob
stück erworbner gelelirsamkeit, oder spielende lust an
dem sträuben und nachgeben einer fremden zunge als
freier trieb wirksamer poesie: sie tragen nicht aus was
sie erstreben und laufen gefahr aufs schnellste verges
sen zu werden.
Mit den einflüssen der lateinischen spräche kreuzen
und begegnen sich durch das ganze millelalter die ge-
scliicke der einheimischen, das steigende bedürfnis ver
feinerter ausdrucksweise war halb geneigt und halb ge
drungen sich des fremden mittels zu bedienen. Poesie
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