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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L 72
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gibt die grundlage her zu dein gedeihen aller literatur,
vermag sie aber nicht allein und ohne hinzutretende
geistige kraft der prosa aufzubringen. Nachdem das
christentlium die noch aus heidnischer Wurzel entspros
sene dichtung des achten und neunten Jahrhunderts *)
verabsäumt oder ausgerottet hatte, muste die deutsche
poesie eine zeitlang still stehn, einer pflanze nicht un
gleich, der das herz ausgebrochen ist, und erst im
zwölften und dreizehnten begann ihr stiel auszuschla
gen : diesem fröhlichen wachsthum war dennoch abzu
welken beschieden, weil ihm keine schützende prosa
zur seite trat. Als im sechzehnten jahrhundert die
deutsche prosa sich ermannte , fehlte die macht der
poesie, und der neuversuchten unvollbürtigen poesie
des siebzehnten war die prosa abgestorben. Endlich
im achtzehnten gelang die Vereinigung beider, und fort
an konnte nichts mehr die blute und frucht unsrer
literatur aulhalten.
Den samen lateinischer diclitkunst trugen Italiener
nach Gallien lind Britannien, erst von da wurde er
Deutschland zugeführt. Dracontius , Sidonius Apollina
ris , Venantius Bortunatus, in etwas weiterem abstand
Aldhelm und Beda reihen sich an die letzten Zöglinge
der aussterbenden römischen poesie, namentlich an Au-
*) die alliteration ist, über Sachsen hinaus, für Hochdeutsch
land erwiesen, und wer an der menge althochdeutscher, vorotfrie-
discher gedichte zweifeln will, sehe das von Reginbert im j. 821
aufgestellte Verzeichnis der bücher zu Sindleozesouwa (später Rei
chenau) , worunter: ‘in vigesimo primo libello continentur XII car-
mina theodiscae linguae (theodisca lingua) formata
xJler ct&Ü
in vige-
simo secundo libello habentur . . . carmina diversa ad docendam
theodiscam linguain.’ Neugart episcop. constant. p. 536. 547. 550.
in ihrer mufse schrieben die mönche nach mündlicher Überliefe
rung deutsche lieder auf, gewis aus mehr als einer absicht, viel-