© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L 72
VORREDE.
R
rie liier mitgetlieilten beitrage zur lateinischen
poesie des mittelalters hoffe ich sollen willkommen sein
und vielleicht geeignet, unhaltbare gesichtspuncte zu
verrücken, unter welchen diese gewöhnlich ins äuge
gefafst wird. Man ist bereit gewesen sie gering zu
schätzen, ohne sie vorher erst einmal vollständig ken
nen zu lernen. Sie hat fast nur duldung erlangen kön
nen, je näher der classischen dichtkunst sie zu treten
schien, und gerade das müste an ihr herausgestellt wer
den , was sie von jener zumeist entfernte und auf be
sondere wege brachte. Wo zwei elemente sich binden,
zieht uns der daraus hervorgehende Schmelz an, nicht
das entschiedne Übergewicht des einen, in welchem
blofs eine unbehagliche allgemeine trübung zurück ge
blieben ist. Der Ursprung der römansprachen aus dem
bedürfnis des Volks, sich natürlich und ohne fessel aus
zudrücken, rechtfertigt und erklärt zugleich den aller
neueren poesie, die sich der alten entgegensetzte, und
sie endlich überwand. Sicher hat der vulgarstil für
uns gröfsern reiz als der gelehrte, weil jener naiv und
eigen sein kann, dieser künstlich und fremd bleibt; an
absoluten Vorzügen liegt es dabei nicht. Wie wenige
lesen Petrarclias lateinische biiclier und wie viele seine
italienischen gedickte. Dem latein des mittelalters, bei
aller Verderbnis, darf oft noch wenn eine ungelenke