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in der beschaffenheit unseres glaubens und der einrich-
tung unseres öffentlichen wesens. einem freigesinnten
alten mann wird nur die religion für die wahre gelten,
welche mit fortschaffung aller wegsperre den endlosen
geheimnissen gottes und der natur immer näher zu rük-
ken gestattet, ohne in den wahn zu fallen, dasz eine
solche beseligende näherung jemals vollständiger abschlusz
werden könne, da wir dann aufhören würden menschen
zu sein. wünschenswertheste landesverfassung aber er-
schiene ihm, die es verstände mit dem gröszten schutz
aller einen ungestörten und unantastbaren spielraum für
jeden einzelnen zu schaffen und zu vereinbaren. sicher
ist nun, dasz hinter allen wünschen die wirklichkeit, an
die wir zunächst gebunden sind, in unermessenem ab-
stande stehn bleibt, doch sollen uns jene ideale vor-
schweben als leitsterne und wer wollte dem alter den
wahn abschneiden, dasz es sie schon am rande des ho-
rizonts aufschimmern sieht?
Bei den meisten völkern stand das alter in ehren
und bereits im hirtenleben, dessen häupter väter und
gyreise waren, sein ansehn begründet. es war uralter
brauch durch seinen mund das recht sprechen zu las-
sen und sich rathes bei ihm zu erholen, im gericht und
in allen versammlungen gebührte ihm vorsitz, süsze worte
flossen von Nestors lippen und wer in grauer vorzeit
hätte gesetze entworfen und weisheit gelehrt, wenn nicht
durch weisheit und gedankenreichthum ausgerüstete män-
ner? doch im fortgange menschlicher bildung liegt es
unausbleiblich, dasz allmälich vorgewicht und einflusz
von dem bloszen stande übergiengen auf die, deren gei-
stesgaben und thatkraft auch schon im mannesalter vor-
ragten und es bezeichnet die überlegenheit athenischer
zustände, dasz sie dem alter geringere ehre erwiesen,