REDE AUF WILHELM GRIMM.
Ich soll hier vom bruder reden, den nun schon
ein halbes jahr lang meine augen nicht mehr erblicken,
der doch nachts im traum, ohne alle ahnung seines ab-
scheidens, immer noch neben mir ist. ihm zum anden-
ken niedergelegt sei denn ein gebund erinnerungen, die
sich aber, wie man in diesem kreise erwarten wird, fast
nur auf seine wissenschaftliche thätigkeit erstrecken.
seine sonstigen lebensbegegnisse hat er selbst schon
einmal anderswo erzählt.
Unter sippen und blutsverwandten dauert ja die
lebendigste, vollste kunde und ihnen stehn von natur
geheime zugänge offen, die sich den andern schlieszen.
nicht allein leibliche eigenheiten und züge haben sich
einzelnen gliedern eines geschlechts eingeprägt und zuk-
ken in wunderbarer mischung nach, sondern dasselbe
thut auch die geistige besonderheit, dasz man oft dar-
über staunt; da hält ein kind den kopf oder dreht die
achsel genau wie es vater oder groszvater gethan hatte
und aus seiner kehle erschallen bestimmte laute mit
derselben modulation, die jenen geläufig war; die leise-
sten anlagen, fähigkeiten und eindrücke der seele warum
sollten nicht auch sie sich wiederholen? menschlicher
freiheit geschieht dadurch kein eintrag, denn neben sol-
chen einstimmungen und ähnlichkeiteh entfaltet sich zu-
gleich auch die entschiedenste selbständigkeit jedes ein-
zelnen, weder dem leib noch dem geiste nach sind sich
je, solange die welt besteht, zwei menschen vollkommen
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