essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L77
DIALECTE 575
in abweichende mundarten gebracht werden, erfahrung lehrt, dasz
bergluft die laute scharf und rauh, das flache land sie weich und blöd
mache, auf der alpe berschen diphthonge und aspiraten vor, auf dem
blachfeld enge und dünne vocale, unter consonanten mediae und lenues.
Die merkwürdigste eigenheit unsrer spräche, die laulverschiehung scheint
minder physisch als geistig zu erklären.
Sollen dialecte sich setzen und lebendige sprachen aus ihnen er
steigen, so bedarf es schon eines gewissen raums an gebiet, innerhalb
dessen die entfaltung eintrete; von zu dicht nebeneinander gedrängten
dialecten werden einige gehemmt und erstickt, wie nicht mit gleichem
gezweige alle äste des baums sich ausbreiten, für den ast entschei
det die gunst der luft und des lichts, für die spräche unter allen ein-
wirkungen den ausschlag gibt das gedeihen der poesie. da nun die
poesie auf drei wegen ausgeht, als epos, lyrik und drama, das epos
am alter das erste, das drama das jüngste ist und das lyrische lied
in der mitte steht; so wird die spräche am reichsten entwickelt sein,
in welcher sich alle stufen der dichtkunst ungestört dargethan haben.
Der griechischen spräche war ein glückliches Iosz gefallen, weil
sie unter bewegten und ruhigen menschen auf meerengen, halbinseln
und insein (s. 162), immer zur rechten stunde, in alle geheimnisse
der diehtarlen eingeweiht wurde, sie entfaltete vier dialecte, von 829
welchen der aeolische für den ältesten noch auf dem festen lande
Thessaliens und Boeotiens waltenden und dann weiter vorgedrungnen
gilt: er gewährt die alterthiimlichste, oft dem latein begegnende und
bei vergleichung urverwandter sprachen überhaupt ergibigste form, im
gebirgsland des peloponnesos erblühte der dorische, in Jonien der jo
nische dialect, jener hell und scharf die lyrischen töne, dieser weich
llieszend das epos zeugend, aus allen dreien gieng zuletzt, im drama
und reichgebildeter prosa, der gewaltigste attische hervor, dessen die
geistige ausslattung des griechischen volks nicht mehr entrathen konnte,
er ist weder berg- noch küstensprache, weder alt noch neu, sondern
die gelungne einheit sämtlicher dialecte.
Es mangelt viel dasz die geschichte andrer sprachen ein so voll
endetes, in sich abgeschlossenes bihl darböte; bevor ich versuche die
deutschen dialecte zu gliedern, ist es nöthig eine schon von den Rö
mern überlieferte Ordnung unserer stamme, was ich absichtlich bis
hierher verspart habe, näher zu betrachten.
Tacitus trägt eine berühmte, im vorhergehenden schon oft ge
nannte trilogie aller Germanen vor, erwähnt aber auch einer heptas,
deren vier letzte reihen neben jenen dreien namhaft gemacht werden;
Plinius hat eine pentas aufgestellt und ein groszes verdienst durch nen-
nung der einzelnen glieder jeder reihe sich erworben, die man bei
Tacitus blosz rathen kann.
Dieser legt dem Mannus drei söhne zu, nach deren namen die
dem ocean benachbarten Ingaevonen, die mittleren Germanen Hermino
nen, alle übrigen Iscaevonen heiszen (s. 824.) Ingaevonen sind also
die nordwestlichen, Iscaevonen die westlichen, Herminonen die Östli-
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